2009/2010
Charles Dickens' Große Erwartungen 13 +
von Neil Bartlett
Deutsch von Michael Walter
Deutschsprachige Erstaufführung
Stückinfo
Ort: | Renaissancetheater, Neubaugasse 36, 1070 Wien |
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Zeitraum: | 08. Februar 2010 - 03. März 2010 |
Premiere: | 10. Februar 2010 |
Regie: | Henry Mason |
»Pip: Stellen Sie sich vor, Herrschaften, dass Sie einen ausgewählten Tag Ihres Lebens durchstreichen könnten – überlegen Sie sich, wie dies Ihr Leben verändert hätte … Halten Sie einen Moment lang inne und denken Sie darüber nach …«
Charles Dickens. Große Erwartungen
Phillip Pirrip, genannt Pip, hätte sich beim besten Willen nicht träumen lassen, wie lange die seltsamen Begegnungen nachhallen, die er als junger Bursche machte. Ein zufälliges Zusammentreffen mit dem entflohenen Sträfling Magwitch, für den er – wenn auch nicht ganz freiwillig – bei Nacht und Nebel den Fluchthelfer spielen muss, vermittelt ihm ein erstes Gefühl davon, was »Schuld« heißt. Und die Bekanntschaft mit der unheimlichen, herzlosen Miss Havisham und vor allem deren wunderschöner aber eiskalter Adoptivtochter Estella erweckt in Pip die Sehnsucht nach Veränderung – er muss es unbedingt schaffen, seine ärmliche Herkunft hinter sich zu lassen, um ein Gentleman zu werden.
Als plötzlich dank anonymer finanzieller Zuwendungen die Erfüllung dieses Wunsches tatsächlich in greifbare Nähe rückt, kehrt Pip seinem Zuhause ohne zu zögern den Rücken und macht sich auf den Weg nach London. Doch sein rasanter Aufstieg in die feine Gesellschaft bleibt immer eine Gratwanderung – mitsamt der Gefahr, dabei sich selbst und seine Fähigkeit zu lieben zu verlieren.
»Große Erwartungen« ist ein Sozialdrama und ein Krimi – aber auch eine Geschichte über den Wert von Freundschaft, Familie und natürlich Liebe. Von Charles Dickens, dem großen Meister des englischen Realismus, im 19. Jahrhundert mit psychologischem Feingefühl und einer gehörigen Portion Sozialkritik verfasst, ist Pips Suche nach seinem Platz in der Welt auch 140 Jahre nach der Veröffentlichung des Romans »Great Expectations« nicht weniger aktuell als damals.
Aufführungsrechte: Rowohlt Theater Verlag, Reinbek bei Hamburg
Das Theater der Jugend dankt der Firma Samsung für die kostenlose Zurverfügungstellung des Mobiltelefons OMNIA II.
Besetzung
Phillip Pirrip, genannt Pip | Claudius von Stolzmann |
Mrs. Joe / Biddy / Wemmick | Katharina Solzbacher |
Joe Gargery / Mr. Jaggers | Alexander Lhotzky |
Abel Magwitch / Sergeant / Mr. Trabb | Christian Higer |
Herbert Pocket / Compeyson / Mr. Wopsle | Christian Graf |
Mr. Pumblechook / Sarah Pocket / Bentley Drummle | John F. Kutil |
Estella | Iréna Flury |
Miss Havisham | Susanne Altschul |
Soldaten / Pocket-Verwandtschaft / Passanten / Partygäste / Dienstboten / Polizisten u. a. | Ensemble |
Regie | Henry Mason |
Bühne und Kostüme | Jan Meier |
Choreographie und Bewegungscoaching | Karl Alfred Schreiner |
Komposition und musikalische Einrichtung | Franz Flieger Stögner |
Dramaturgie | Matthias Göttfert |
Assistenz und Inspizienz | Clemens Pötsch |
Hospitanz | Florian Pilz |
Kritiken
Kronenzeitung – 13.02.2010Pip hat viel Kummer
Das turbulente Leben des Jungen Pip, spannend in Thrillerstimmung verpackt: Mit Neil Bartletts Romanadaption »Charles Dickens' Große Erwartungen« lockt das Theater der Jugend im Renaissancetheater ins England der letzten beiden Jahrhunderte, verbindet das historische Gestern mit modernen Zeiten. Packend!
Zu Beginn des Abends meint man, Jack the Ripper biegt gleich um die Ecke. Aber Charles Dickens' Geschichte vom Waisenknaben Pip, der sich unsterblich in das kaltherzige Mädchen Estella verliebt, von einem ebenso geheimnisvollen wie reichen Gönner zum Gentleman verwandelt wird und letztendlich doch unglücklich und einsam bleibt, ist mehr als ein oberflächlicher Krimi, sie ist auch – typisch Dickens – sozialkritisch.
Eine wundersame Melancholie liegt über dem Ganzen. Eine Melancholie, die Regisseur Henry Mason perfekt eingefangen hat und jeden Moment der Aufführung spürbar wird. Er verpasst dem Stück aber auch eine Zeitlosigkeit, trotz üppiger Kostüme für die seltsame Miss Havisham (Susanne Altschul) und den viktorianischen Alltagskleidern (Ausstattung: Jan Meier) von Pips Familie, von Mrs. Joe und Joe Gargery (Katharina Solzbacher, Alexander Lhotzky). Die Vergangenheit und Gegenwart vermischen sich da in spannender Art, wird an Pip besonders sichtbar: Claudius von Stolzmann, eines der großen Theatertalente Wiens, trifft in der Figur Pip ideal die Lebenslust heutiger Jugend und Dickens' Poesie des Herzens. Überzeugend.
Liebeskummer wird nie aus der Mode kommen, und das Erkennen echter Liebe, so wie es »Estella« Iréna Flury, aber auch Pips Freund Herbert Pocket (Christian Graf) am Ende passiert, auch nicht. Denn hohe Erwartungen bringen immer große Enttäuschung!
Thomas Gabler
Kurier – 13.02.2010
Die großen Erwartungen erfüllen sich oft nicht
Sie war der Hit in England in den Jahren 1860 und 1861: Charles Dickens' Geschichte vom Aufstieg und Fall seines Helden Pip, die als wöchentliche Fortsetzungsstory in Dickens' eigener Zeitschrift All the Year Round erschien. Wegen des Erfolgs wurde daraus ein Buch mit dem Titel »Große Erwartungen«. Später auch ein Film – mit Gwyneth Paltrow und Ethan Hawke.
Dass die Sehnsucht nach dem Entkommen aus der Armut, der Traum von Geld und gesellschaftlicher Anerkennung, wie Dickens ihn gezeichnet hat, ein zeitloser ist, beweist Henry Masons Inszenierung von »Große Erwartungen« im Theater der Jugend. Wie es den Waisenjungen Pirrip, genannt Pip, bis ins Mark trifft, als ihn die reiche Miss Havisham und ihre eiskalte Adoptivtochter Estella als »groben, gewöhnlichen Burschen« bezeichnen; wie er die Zuwendung eines ihm unbekannten Gönners dazu nutzt, zum feinen Londoner Gentleman zu werden; wie er dann doch unglücklich ist, weil er sich auf seinem steilen Weg nach oben selbst verloren hat.
Claudius von Stolzmann gibt seinem Pip Biss, lässt ihn aber dennoch stets menschlich wirken. Christian Higer ist ein mitreißend halbseidener Mäzen Magwitch, der all seine Wünsche in Pip projiziert; Iréna Flury eine perfekte Femme fatale. Ein anspruchsvolles, aber bereicherndes Stück, zu sehen bis 3. März.
Susanne Lintl
Die Presse – 13.02.2010
Theater der Jugend – Der kleine Pip wird erwachsen
Henry Mason setzt in »Große Erwartungen« nach Charles Dickens' auf Sentiment und Überzeichnung.
Die Geschichte des Waisenkindes Pip, das durch einen anonymen Gönner zum reichen Gentleman wird, alles zu verlieren droht und doch noch das Glück findet, gehört zu den Glücksfällen der Weltliteratur, die verlässlich das Herz erwärmen […] Auch in der Dramatisierung von Neil Bartlett, die diese Woche im Wiener Renaissancetheater Premiere hatte, baut Regisseur Henry Mason auf Gefühl, […] Claudius von Stolzmann ist ein sympathischer, pubertärer Pip, Iréna Flury eiskalt als seine Angebetete. Daneben agieren skurrile Typen, deren Eigenheiten von Katharina Solzbacher, Alexander Lhotzky, Susanne Altschul, Christian Hilger, John F. Kutil und Christian Graf mit Hingabe in Mehrfachrollen gepflegt werden. Viel Applaus nach gut zweieinhalb […] Stunden.
Norbert Mayer
Wiener Zeitung – 12.02.2010
Die wahren Werte
Charles Dickens hat in seinen Werken immer wieder aufgezeigt, wie unverantwortlich die Gesellschaft oft mit Schwachen – vorrangig Kindern – umgeht. Das Theater der Jugend bringt nun im Renaissancetheater Neil Bartletts Bühnenfassung von Dickens' Roman »Große Erwartungen«.
Im Mittelpunkt steht Pip, der als Bub herumgeschubst und ständig zu Dankbarkeit aufgefordert wird und nur eines zum Ziel hat: ein Gentleman zu werden. Und erst sehr spät erkennt, was die wahren Werte sind.
Mit einem nur achtköpfigen Darsteller-Team inszenierte Henry Mason, der neue Oberspielleiter des Theaters der Jugend, das Stück und hat mit Claudius von Stolzmann einen hervorragenden Hauptdarsteller, der die sozialkritische Geschichte voll zum Tragen bringt. […]
Lona Chernel
www.der-neue-merker.eu – 11.02.2010
Es muss schon tiefere Gründe haben, dass die großen Entwicklungsromane von Charles Dickens, also vor allem »Oliver Twist« und »David Copperfield«, nie aus dem Bewusstsein verschwinden, immer wieder – wenn schon vielleicht nicht gelesen – verfilmt und dramatisiert werden. Auch die »Großen Erwartungen« gehören dazu, wenngleich sie nicht ganz so populär sind. Aber auch die Geschichte von Phillip Pirrip, genannt »Pip«, hat ihre ewige Moral – und wenn es nur darum geht, dass die Erfüllung von Wünschen, die sich auf die äußere Fassade des Menschseins beziehen, zu leicht auf den inneren Menschen vergessen … Wenn Pip, der bettelarme Junge, also ein »Lord« werden will, um der hochmütigen Estella zu gefallen, macht ihn der Reichtum weder glücklich noch besorgt er ihm die Frau. Und Kummer und Geldverlust halten ihn gerade rechtzeitig auf, bevor er am Ende sich selbst verliert.
Das hat Neil Bartlett in einer »epischen« Art dramatisiert, in der Pip selbst seine Geschichte erzählt, wobei er vieles locker verkürzen kann. Die offene Dramaturgie erfordert eine ebensolche Umsetzung, und das ist Regisseur Henry Mason im Renaissancetheater geradezu souverän gelungen. Die fast leere Bühne (Ausstattung: Jan Meier) ist ein großer Sandkasten, und gelegentlich fahren Bühnenelemente hin und her, die mühelos Schauplätze wechseln und Übergänge bewerkstelligen lassen. Das Geschehen läuft geschmeidig ab, immer wieder Realismus und Symbolik überzeugend verflechtend. Das ist eine Aufführung nicht nur für »Kinder ab 13«, wie das Theater der Jugend ankündigt, sondern natürlich auch für Erwachsene, zumal sie prächtig gespielt wird.
Seit der Dustin-Hoffman-Rolle in der »Reifeprüfung« im Volkstheater hat der vorzügliche Claudius von Stolzmann an Wiener Bühnen keine adäquate Aufgabe mehr bekommen. Hier ist sie nun, Pip vom kleinen Jungen, der aus Angst, aber auch aus Anstand einem flüchtenden Sträfling hilft, bis zu Pip, der erwachsene Mann, der durch Fegefeuer, unverhofften finanziellen Himmel und zahlreiche menschliche Höllen gegangen ist. Stolzmann verschmäht jegliche »naive« Unnatur, die Selbstverständlichkeit seines Daseins und So-Seins ist wirklich verblüffend und eine Leistung, die sich tief einprägt. Nur noch eine der Schauspielerinnen darf es an diesem Abend bei einer einzigen Rolle belassen – Susanne Altschul als die total verhuschte, undurchsichtige Miss Havisham (ein bisschen als »Southern Belle« angelegt, obwohl die Handlung hier, im Gegensatz zu vielen Verfilmungen, in England geblieben ist). Die anderen schlüpfen souverän, aber ohne kicherndes Virtuosengetue von einer Figur in die andere, wobei Iréna Flury dann auch die kokett-kalte Estella ist, Katharina Solzbacher überzeugend in ihrer Verwandlung von der zankenden Schwester zur liebevollen zweiten Ehefrau des Schmieds, den Alexander Lhotzky als aufrechten schlichten Mann (zum Umarmen!) von dem aalglatten Anwalt absetzt, den er auch zu verkörpern hat. John F. Kutil, Christian Graf und Christian Higer kümmern sich um den Rest.
Ein überzeugender Abend, der die Theatermittel souverän einsetzt, dies aber so einsichtig tut, dass auch ein jugendliches Publikum (das die Handlung in unsere Zeit versetzt findet) keineswegs überfordert wird. Sehenswert.
Renate Wagner
Der Standard – 27.02.2010
[…] Das geschieht in der Inszenierung von Henry Mason sehr fließend, indem sich der mutige Pip (Claudius von Stolzmann) über das T-Shirt schnell eine historische Leinenkutte streift oder sein Zimmergenosse (Christian Graf) in royalblauen Röhrenjeans ein schönes Bild heutigen jugendlichen Hedonismus abgibt. Klug auch die Bühne, auf der ein erdiger Boden immer wieder die Spuren der Kindheit am Körper abdruckt […]
Margarete Affenzeller